von Gerlind Reinshagen
Mit “Die Frau und die Stadt” hat sich Gerlind Reinshagen die Augen und die Stimme einer der bedeutendsten deutschsprachigen Dichterinnen ausgesucht: Gertrud Chodziesner, die unter dem Pseudonym Kolmar veröffentlichte, bis sie 1943 in Auschwitz ermordet wurde: An einem ihrer letzten Berliner Tage besteigt Gertrud Kolmar im Morgengrauen die Siegessäule, um zu springen, um Schluss zu machen, selbstbestimmt, wenn auch nicht aus freien Stücken – bevor sie von der Fabrikarbeit weggeholt und ins Vernichtungslager transportiert wird. Schließlich steigt sie wieder herunter. Sie hat beschlossen, durchzuhalten bis zum letzten Augenblick und sei es nur, »um ein Dreck zu werden unter euren Stiefeln, Mörderbande, der euch noch tausend Jahr lang an den Sohlen kleben soll«. Ließe Reinshagen ihre literarische Figur den Selbstmord vollziehen, wäre ihr neuer Text nur einer unter vielen in der Literatur fiktiver Biographien geworden. Doch mit der Entscheidung Kolmars, oder besser gesagt Reinshagens, zum Weiterleben avanciert dieses Stück zur Ode an die Selbstbefreiung: Die Dichterin entscheidet sich, ihr Leben bis zum letzten Augenblick zu leben. Sie kämpft sich von Todesängsten frei und dichtet weiter.
Regie und Spiel: Brigitte Döring